MUSIKREZENSION
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Publikationsdatum
8. Juni 2023
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Ein Schmelztiegel der Stile

Das 18. Jahrhundert ist musikgeschichtlich eines der spannendsten. Zu Beginn des Jahrhunderts, 1714, steht Arcangelo Corellis Concerto Grosso Op.6 Nr. 4 (Hörbeispiel: «Le Concert Spirituel au temps de Louis XV» mit Le Concert des Nations unter Jordi Savall, Alia Vox 2010) stellvertretend für die mehrsätzigen Orchesterwerke mit strengem Wechsel von Tutti und mehreren Solostimmen, mit der Abfolge von langsamen und schnellen Sätzen.

Die klassische, viersätzige Symphonie in Sonatenhauptsatzform entwickelt sich langsam ab Mitte des Jahrhunderts. Haydn, ein spendabler Fürst Esterhazy und 107 Symphonien zeugen von dieser Entwicklung. Am Ende des Jahrhunderts findet am 2. April 1800 die Uraufführung von Beethovens 1. Symphonie Op. 21 statt (Hörtipp: Live-Aufnahme im Saal der Uraufführung – «Resound Beethoven», Orchester Wiener Akademie, Martin Hasselböck). Dazwischen stehen Bachs sechs Brandenburgische Konzerte (1721) ebenso als Meilenstein wie Mozarts gesellschaftskritische Oper «Le Nozze di Figaro» von 1786 – im Vorfeld der Französischen Revolution.

Francesco Durante?

Wer kennt schon einen Komponisten, von dem man über weite Strecken nichts aus seinem Leben weiss, der mehrheitlich Kirchenmusik komponiert hat und von dem nur wenige Werke überliefert sind. Auch im Internet und bei Qobuz liefert die Suche wenig. Doch dieses Wenige ist beachtenswert. Durante (1684–1755) war ein angesehener Lehrer am Conservatorio di Santa Maria di Loreto in Neapel. Zu seinen Schülern zählten auch Paisiello und Pergolesi.

Eine eigene Faszination üben seine acht Concerti für Streicher aus. Es gibt nur wenige Aufnahmen dieser Werke. Zwei sind bemerkenswert. Die erste stammt vom Concerto Köln aus den Jahren 1990 und 1992, damals als Doppel-CD lanciert (Concerto Köln, Werner Ehrhardt, Phoenix, Edition/WDR3). Die neuste Gesamtaufnahme stammt vom Label Arcana (2023 Outhere Music France) mit der Accademia dell’Annunciata unter Musikdirektor Riccardo Doni.

Das Ensemble wurde 2009 gegründet und residiert im früheren Kloster Convento dell’Annunziata in Abbiategrasso, in der Nähe von Mailand. Gespielt wird auf originalen Instrumenten oder deren getreuen Nachbauten. Mit knapp 20 Musikern – alles Streicher plus eine Barock-Gitarre und Cembalo – deckt das Ensemble trotzdem ein breites Repertoire von Bach bis Beethoven ab.

Ein weiterer Fokus liegt bei wenig bekannten und selten gespielten italienischen Komponisten wie Durante. Seit 2011 leitet Riccardo Doni die Accademia dell’Annunciata, der einen Teil seiner Ausbildung als Organist und Komponist in Basel absolviert hat.

Francesco Durante, Civico Museo Bibliografico Musicale Bologna.Francesco Durante, Civico Museo Bibliografico Musicale Bologna.

Tradition und Moderne

Die ersten Dekaden des 18. Jahrhunderts sind geprägt durch die Koexistenz von Tradition und dem Aufbruch zu neuen Formen. Als Musiklehrer und Komponist von Kirchenmusik pflegte und verteidigte Durante die römische Schule Palestrinas gegen den Druck der aufkommenden Oper. Mit seinen Concerti für Streicher geht Durante dennoch einen unkonventionellen Weg, weg von der Tradition.

Die acht Concerti dieser Einspielung sind ein Stilmix, zeugen vom Experimentieren mit Stimmungen, Formsprache und ungewohnten Harmonien. Beeindruckend ist der Umgang mit Stimmungswechseln und das Ineinanderfliessen von Tradition und Moderne. Dies kann sogar innerhalb eines Satzes mehrfach der Fall sein.

Der erste Satz des achten Concertos mit dem Titel «La Pazzia» (Wahnsinn), der schon durch seine Überlänge auffällt, ist ein herausragendes Beispiel. Tempi, Stile und Soli im Wechselspiel, auch mit ungewohnten Harmonien, prägen den Satz.

Das Presto des zweiten Concertos eröffnet mit einem Fugato-Thema, um dann kontinuierlich in einen an Vivaldi erinnernden Solopart der Violine zu mutieren, mit melodischen wie virtuosen Elementen. Der innere Kontrast dieses Satzes ist faszinierend.

Am eindrücklichsten aber sind die teilweise sanft melancholischen Stimmungen innerhalb dieser acht Concerti, die von ergreifender Schönheit sind und unweigerlich an die sanften Hügellandschaften des Apennins in der Toscana erinnern. Beispiele: das Larghetto des zweiten Concertos oder der Eröffnungssatz des ersten Concertos in F-Moll, der mit Poco Andante bezeichnet ist und neben der Melodik auch durch die abwechslungsreiche Stimmführung geprägt ist.

Der zweite Satz bricht dann aus der eher düsteren Stimmung aus, um im darauffolgenden Andante erneut in eine ruhige, getragene Tonalität zurückzukehren. Der vierte Satz – Amoroso – bringt ein liebliches, sanftes Element ein, um dann im von Synkopen geprägten, schnellen Schlusssatz vor Lebensfreude zu sprudeln.

Das siebte Concerto wird dominiert von rhythmisch prägnanten Sätzen, mit einem Larghetto, das den dritten Menuettsatz einer klassischen Symphonie vorwegzunehmen scheint und einem Schlusssatz, den man in Unkenntnis schnell mal Antonio Vivaldi zuordnen würde.

Accademia dell’Annuciata.Accademia dell’Annuciata.

Die acht Durante-Concerti sind Kleinode abseits der grossen und bekannten Linien. Ihre Frische einerseits und die einzigartigen, teilweise ins Melancholische kippenden Stimmungen, machen diese Werke zu einem besonderen Hörerlebnis, das man in Ruhe geniessen sollte.

Zwei Spitzeninterpretationen

Die Interpretation dieser Werke durch die Accademia dell’Annunciata ist auf höchstem spieltechnischem Niveau. Die präzise Artikulation und das Zusammenspiel des Orchesters, der Drive bei den schnellen und der starke Ausdruck der langsamen Sätze erzeugen einen mitreissenden Spannungsbogen.

Die eingangs erwähnte zweite Aufnahme der Durante-Concerti mit dem Concerto Köln hat insgesamt leicht langsamere Tempi und minimal mehr Legato. Dadurch wirken die Concerti nochmals einen Tick melancholischer, da auch die schnellen Sätze etwas weniger akzentuiert gespielt werden. Beide Aufnahmen sind empfehlenswert und sind inklusive Booklet auf Qobuz als Download und Stream verfügbar.

Ergänzend sind auf dem Arcana-Album zwei Werke von ebenfalls nahezu unbekannten Zeitgenossen Durantes verfügbar. Eine Sinfonia für vier Violinen und Continuo von Nicola Fiorenza (ca. 1700–1764), ein an der Tradition orientiertes Werk. Und im Gegensatz dazu als zweites Supplement ein Concerto für Cello von Nicola Porpora (1686–1768), das erst vor wenigen Dekaden entdeckt wurde. Dieses eher lyrische Werk bietet in den schnellen Sätzen einen lebendigen, konzertanten Stil.

Spiel auf originalen Instrumenten. Links vorne: Riccardo Doni.Spiel auf originalen Instrumenten. Links vorne: Riccardo Doni.

Klang und Aufnahmetechnik

Der Arcana-Aufnahme mit der Accademia dell’Annunciata darf man Referenzstatus zubilligen. Hi-Res at its best – frei von Artefakten, mit einem grossen technischen Dynamikumfang und mit ausgeprägten Klangfeinheiten. Die Instrumentengruppen sind präzise im Raum ortbar, mit einem ausgewogenen Hallanteil (Aufnahme in einer Kirche). Dies ist für den Autor ein wichtiges Kriterium, da so die kompositorischen Linien, Motivarbeit über Orchesterstimmen, spielerische Feinheiten, Artikulationen, Tempi- und Dynamikwechsel besser hörbar und nachvollziehbar sind.

Auch tonal ist die Aufnahme ausgewogen. Originalinstrumente und Streichinstrumente mit Darmsaiten neigen zu einem raueren Klang, stark abhängig von der Spielweise. Bei eher höhenlastigen Aufnahme oder ebensolchen Lautsprechern können historische Instrumente dann durchaus mal nervig klingen.

Spektrum der Durante-Aufnahme, Concerti per Archi.Spektrum der Durante-Aufnahme, Concerti per Archi.

Extrem sauberes Spektrum mit Frequenzanteilen bis 30 kHz und einem Dynamikumfang von rund 100 dB. Diese Aufnahme zeigt deutlich, was an Feinheiten in Spiel, Klangfarben, Rauminformation und Lokalisation von Instrumenten vermittelt werden kann, wenn man die Finger von Limitern und Dynamikkompressoren lässt und einfach die erweiterten Möglichkeiten des Hi-Res-Formates nutzt.

Aufnahmesession in der Kirche San Bernardino, Abbiategrasso.Aufnahmesession in der Kirche San Bernardino, Abbiategrasso.

Fazit

Das Album mit den Durante-Concerti per Archi mit der Academia dell’Annuciata ist eine herausragende Einspielung. Die kaum bekannten Werke dürften für viele Klassikhörer eine wertvolle Neuentdeckung sein. Die eigentümlich sanfte Melancholie der Streicherconcerti, gepaart mit Spiel- und Lebensfreude, ziehen in den Bann. Die tadellose Aufnahme zeigt auch, was heute technisch machbar ist. Und nicht zuletzt ist die kompetente Spielweise des italienischen Ensembles massgebend für den feinen und vielschichtigen Musikgenuss, die Durantes Concerti offenbaren – die an einer Bruchkante der europäischen Musikentwicklung entstanden sind.

Fritz Fabig Gastautor

Fritz Fabig ist passionierter Musikliebhaber mit Schwerpunkt in der Klassik-Epoche. Nach einer elektrotechnischen Ausbildung und Management/Marketing Weiterbildung erfolgte ein Wechsel in die Audio Branche. Beinahe zwei Dekaden war Fritz Fabig Geschäftsführer der B&W Group Schweiz. Seit Ende 2021 ist er als freischaffender Berater tätig.
STECKBRIEF
Besetzung:
Dirigent: Riccardo Doni
Orchester: Accademia dell’Annuciata
Albumtitel:
Francesco Durante, Concerti per Archi
Komponist:
Francesco Durante (1684–1755) (Nicola Porpora, Nicola Fiorenza)
Herkunft:
FR
Label:
Arcana / Outhere Music France
Erscheinungsdatum:
17.2.2023
Spieldauer:
118 min
Tonformat:
FLAC 24 Bit/88,2 kHz – Stereo
Aufnahmedetails:
Aufgenommen in der Kirche San Bernardino, Abbiategrasso (Mailand), Oktober 2021 und Mai 2022
Produzent, Tonmeister, Mastering: Fabio Framba
Medium:
Download/Streaming/2CD
Musikwertung:
10
Klangwertung:
10
Bezugsquellen