Wenn man (wie ich) im Jazz versucht ist, sich vor allem über die bereits etablierten Grössen auszulassen, vergisst man oft, dass es glücklicherweise auch neuere Generationen von Musikern und Musikerinnen gibt, die dieser Musikrichtung neuen Schub verleihen, ohne die Traditionen, die den Jazz ausmachen, zu vergessen. Während im totalen Free Jazz möglichst nichts vorgegeben ist, eben die völlige Freiheit herrschen soll (was unbedarfte Ohren meist als Chaos wahrnehmen), werden im «Jazz der neueren Generationen» Traditionen wie Harmonie-Schemata und Improvisation in erweiterter, freierer Form weitergepflegt. Und genau dies geschieht im Zusammenspiel dieser fünf Musiker.
Die Musiker
Einige von ihnen haben wir bereits in anderen Rezensionen kennengelernt. Ebenso wurden das schnell wachsende Label Posi-Tone, dessen Produzent Marc Free und der Toningenieur Nick O’Tool hier vorgestellt. Mittlerweile hat der Katalog des Labels die Marke 250 überschritten, was auch mit der Effizienz des Produzenten zu tun hat (siehe Bemerkung am Ende dieser Rezension).
Dies ist das achte Album, das der Vibraphonist Behn Gillece (Jahrgang 1982) unter seinem Namen auf Posi-Tone veröffentlicht. Zudem gehen vier der acht Kompositionen auf sein Konto. Gillece gilt als einer der progressivsten Musiker des Labels, doch in dieser Session kehrte er zu den eingangs erwähnten Traditionen des Jazz zurück, ohne jedoch von seinem eigenen Stil und seiner weitreichenden Kreativität abzuweichen. Zudem hat er sich erstmals mit dem Saxofonisten Willie Morris und dem Pianisten Jon Davis zusammengefunden, beide mit einer ausgedehnten Erfahrung und früherer Zusammenarbeit mit vielen Jazzgrössen.

Altbekannt sind bereits der Bassist Boris Kozlov (Jahrgang 1967) und der Schlagzeuger Rudy Royston, die beide auf unzähligen Posi-Tone-Produktionen zu hören sind. Auf vier der acht Stücke sitzt Jason Tiemann, ebenfalls ein erfahrener Drummer, am Schlagzeug.
Wenn ich eingangs «neuere Generationen» erwähnte, muss ich präzisieren: Alle an diesem Album Beteiligten sind keine Grünschnäbel mehr, sie sind (soweit ich eruieren konnte) zwischen 40 und 59 Jahre alt. Und wie wohl die meisten Musiker sind sie zudem Lehrer, unterrichten ihr Instrument an Musikschulen, Universitäten und online.
«Pivot Point»
Die acht Stücke auf diesem Album bilden, obgleich unterschiedlich im Charakter, eine Einheit. Sieben davon wurden von den Musikern selbst beigesteuert, nur «Toys» stammt von Herbie Hancock.
Alle Kompositionen sind nach alter Jazztradition aufgebaut: Dem anspruchsvoll arrangierten Thema folgen zwei bis drei Soli, die ausnahmslos sowohl von Boris Kozlov und dem jeweiligen Drummer perfekt unterstützt werden. Zum Abschuss folgt dann wiederum das Thema, dessen Schluss durchgehend sauber arrangiert ist (keine Ausblender).
Das Eröffnungsstück «Haymaker» ist eine komplexe Post-Bop-Melodie, die in den Soli in leicht federndem Swing daherkommt, vor allem auch dank der rhythmisch prägnanten und harmonisch raffinierten Basslinie von Altmeister Kozlov.
«What’s Expected» stammt aus der Feder des Saxofonisten Willie Morris und zeigt auf, was man alles mit einem 12-Takt-Blues-Schema machen kann. Wiederum ist es Kozlov, der das Fundament für die Tenorsax- und Vibraphon-Improvisationen bildet, die durch recht schräge Einwürfe des Pianisten an Buntheit gewinnen, bevor dieser dann selbst zu einem noch schrägeren Solo ansetzt. Bemerkenswert sind aber auch die dezenten Schlagzeugakzente von Rudy Royston, die dank der hervorragenden Abmischung genau richtig dosiert das Gesamtbild ergänzen.
«Beyond the Veil» ist eine sanfte Ballade, in der sich Willie Morris’ sanfte Sopransaxofonklänge perfekt mit dem Vibraphon vereinen.

«Stranded in Elisabeth» bezieht sich nicht etwa auf eine Dame (oder gar die Queen), sondern auf einen Stadtteil in New Jersey. Es ist eine der älteren Kompositionen von Behn Gillece, die schon auf dem Album «Top Shelf» (2013) mit dem Tenorsaxofonisten Ken Fowser zu hören war, aber eben nun in einer moderneren, überarbeiteten Version neu eingespielt wurde.
Falls man unter Herbie Hancocks «Toys» etwas Fröhliches erwartet, wird man enttäuscht: Es ist eher eine traurige, im Thema schleppende Melodie, die dann zwar dank der interessanten Soli etwas aufgewertet wird, doch mich, nicht zuletzt wegen der mehrmals wiederholten Tonleitern, am wenigsten anspricht.
Dafür hellt sich die Stimmung mit «Just for Fun» rasch auf: Man spürt förmlich die Spielfreude, die erneut von Boris Kozlov hervorragend unterstützt wird. Und die «Vierer» zwischen Bass und Drums, hier Jason Tiemann, geben dem Stück noch zusätzlichen Pep.
«Changes over Time» ist, wie schon «Just for Fun», eine Komposition des Pianisten Jon Davis. Sie erinnert an Thelonious Monk und Charles Mingus, wird dann jedoch noch auf eine höhere Ebene katapultiert und ist somit das wohl progressivste Stück auf diesem Album. Besonders erwähnenswert ist der aussergewöhnliche Schlagzeugbeitrag von Rudy Royston. Den Abschluss bildet «Pivot Point», eine ruhigere Komposition mit Willie Morris am Sopransaxofon. Doch sowohl die Soli als auch der Einsatz von Bass und Schlagzeug sind dann alles andere als ruhig.
Fazit
Behn Gilleces Album «Pivot Point» zeigt auf, was heutzutage entstehen kann, wenn man hervorragende Musiker spielen lässt, ihnen möglichst viele Freiheiten zugesteht, was dem Produzenten Marc Free immer wieder gelingt. Es ist allerdings nicht ein «Fast-Food-Album» für den schnellen Konsum. Man kann es nur geniessen, wenn man sich Zeit nimmt und hinhört. Doch dann offenbaren sich bunte Welten voller Fantasie.
Zusätzlich sei endlich dem Audio-Engineer Nick O’Toole ein Kranz gewunden, der (meiner Meinung nach) exzellente Arbeit leistet und die ideale Ausgewogenheit zwischen den Instrumenten findet.
avguide.ch meint
Zur oben erwähnten Posi-Tone-Effizienz: Wer mehr von dieser Gruppe hören möchte, dem sei «Unbound Inner» empfohlen, in derselben Session aufgezeichnet, jedoch unter dem Namen von Willie Morris bereits Anfang Jahr veröffentlicht.