
Wer die musikalische Wirklichkeit eines Konzerts erfahren will, muss die musikalische Darbietung im Konzertsaal miterleben. Die meisten ambitionierten Musikhörer tun dies aber selten. Andererseits besitzen viele ambitionierte Konzertgänger keine vernünftige HiFi-Anlage. Dasselbe gilt auch für Musiker.
Die einen wollen das wirkliche Konzertereignis gar nicht mit nach Hause nehmen, die anderen wollen es gar nicht dort erleben, wo es stattfindet. Den meisten geht es nicht darum, wie es in dieser Wirklichkeit klingt. Sie wollen Musik hören und sich dabei gut fühlen.
Die Audio-Industrie verspricht den Kunden aber unisono ein Konzerterlebnis zuhause, ein Abbild der Wirklichkeit. Deshalb befasse ich mich mit dem, was wir unter Wirklichkeit verstehen.
Die seltene Wirklichkeit
Als es noch keine Musikaufzeichnungen gab, also vor Edison, konnte man Musik nur live erleben. Entsprechend selten bot sich die Gelegenheit dazu, abhängig von der Zugehörigkeit zu Gesellschaftsschichten. Wenn sich die Gelegenheit aber bot, erlebte man den Klang der Instrumente und Stimmen authentisch, verbunden mit einer Nähe zu den Musikern. Dabei handelte es sich ausschliesslich um akustische Instrumente ohne Mikrofone, Verstärkung und Lautsprecher.
Wenn man die Wirklichkeit eines Konzertereignisses heute so definierte, dann würde sie nur auf sehr wenige Konzerte zutreffen. Sie käme sehr selten vor. Aufwändige Operninszenierungen auf Grossbühnen sind ohne komplexe Technik undenkbar. Im Jazzkeller braucht es trotz der Intimität auch Technik für die Sängerin und die Instrumente, die leiser klingen als andere.
Die frühere und die heutige Wirklichkeit haben also nur noch selten etwas gemein.
Aufnahmen verzerren die Wirklichkeit
Musikaufnahmen sind jederzeit abspielbar und sie sind Zeitdokumente. Die Interpreten leben mit den Aufnahmen weiter. Dank Musikaufnahmen kann man viel häufiger und überall Musik hören. Musikaufnahmen haben den Musikgenuss demokratisiert, weil er allen für wenig Geld verfügbar gemacht wurde.
Mit der Zeit verbesserte sich die Aufnahmetechnik so, dass man der Wirklichkeit – oder zumindest unserer Vorstellung davon – immer näherkam. In den 1950er-Jahren entstand der Begriff Hi-Fi (High Fidelity = Hohe Treue). Seit dann sprechen die Industrie und die Anwender vom Konzertsaal im Wohnzimmer.
Das Wohnzimmer ist aber kein Konzertsaal, und deshalb werden die Aufnahmen so gemacht, dass im Wohnzimmer die Illusion der Wirklichkeit ermöglicht wird. Deshalb gibt es die "wirkliche Wirklichkeit", wenn überhaupt, nur im richtigen Konzertsaal.
Ausserhalb der Klassik, die in Konzertsälen gespielt wird, entstehen die meisten Musikaufnahmen in Tonstudios, wo in den meisten Fällen nicht wirklich live oder konzertant gespielt wird. Dort wird die Illusion einer Wirklichkeit geschaffen, die es nie gab.
Fazit
Der Konzertsaal im Wohnzimmer ist eine Illusion, die der Wirklichkeit so nahe wie möglich kommen soll. Zudem ist die Wirklichkeit selbst auch eine Illusion, die von sehr vielen Musikliebhabern gar nicht erlebt wird – schon gar nicht bei allen Aufnahmen.
Überspitzt ausgedrückt ist der Konzertsaal im Wohnzimmer die Illusion einer Illusion.
Wie wir uns die Wirklichkeit oder den Konzertsaal auch immer vorstellen oder vorstellen können: Entscheidend ist nur, dass uns Musik berührt, wo immer wir Musik hören.