MUSIKREZENSION
Seite 1 / 2
ARTIKEL
Publikationsdatum
24. Juli 2023
Themen
Drucken
Teilen mit Twitter

Das Werk wurde bei der Uraufführung in London 1833 begeistert aufgenommen. Dennoch zog Mendelssohn es nach der ersten Aufführung zurück und arbeitete 1833 und 1834 an einer neuen Fassung. Schwester Fanny Mendelssohn und auch Clara Schumann hatten Mühe mit der neuen Version, die sie in Fragmenten zur Beurteilung bekamen. So überrascht es denn nicht, dass die neue Fassung nie vollendet wurde, respektive vom Komponisten als druckreif erachtet wurde. Die erste Drucklegung der 4. Symphonie erfolgte erst 1851, vier Jahre nach Mendelssohns frühem Tod – notabene in der Urfassung.

Symphonie Nr. 4 Op. 90 «Italienische» – Die Dominanz der ersten Fassung

Heute hören wir fast ausschliesslich die erste Fassung von 1833. Alexis Kossenko mit «Les Ambassadeurs – La Grande Écurie» bringen nun mit der beim Label Aparte erschienen Einspielung die 1834er-Fassung der italienischen Symphonie zu Gehör. Das Album umfasst die 4. Symphonie «Italienische» und 5. Symphonie «Reformation».

Mendelssohn war 24 Jahre alt, als er die Italienische Symphonie komponierte. Entstehungsgeschichtlich wäre sie eigentlich die Nr. 3. Die 5. Sinfonie ist die erste mit grossem Orchester und müsste die Nummer 1 tragen. Die heute gebräuchliche Nummerierung folgt der Reihenfolge der Veröffentlichung. Was bewog Mendelssohn zur Überarbeitung eines vom Publikum sehr gut aufgenommenen Werkes? Drei Jahre früher machte Hector Berlioz Furore mit seiner revolutionären Symphonie fantastique. Mendelssohn war aber eher der Bewahrer von Traditionen, denn Avantgardist. Sein Verdienst war es auch, Bach wieder aus der Versenkung geholt zu haben.

Unter dem Eindruck von Berlioz’ Werk kann man die Italienische Symphonie als leicht, mit wenig Dramatik und Kontrast empfinden. Mendelssohn hatte offensichtlich diesen Eindruck. Seine Reaktion war Rückzug und Überarbeitung.

Les Ambassadeurs – La Grande Écurie.Les Ambassadeurs – La Grande Écurie.

Trotz Erfolg unzufrieden – die italienische Variation

Die nie vollständig zu Ende überarbeitete Fassung zeigt vor allem im zweiten Satz (Andante), in welche Richtung Mendelssohns Änderungen gingen: Ohne die positive Grundstimmung des Werkes zu verlassen, werden Motive «entschlackt», geht die Tonalität nun in Richtung Prägnanz, Bläser werden leicht dominanter gesetzt. Das Finale (Allegro di molto – Saltarello) wird um 40 Takte erweitert und im dritten Satz die thematischen Konturen geändert. Schlussendlich wurde die Symphonie in keiner Fassung zu Mendelssohns Lebzeiten publiziert. 

5. Symphonie «Reformation» Op. 107

Kossenko spielt auch bei der 5. Symphonie, die eher selten gehörte, erste Version, die allerdings nur geringe Änderungen zur regulären Version hat. Mendelssohn komponierte das Werk 1830 für die Feierlichkeiten zum Gedenken an 500 Jahre Reformation. Die Symphonie ist ein Frühwerk des Komponisten. Die Aufführung 1830 fand aufgrund politischer Unruhen in Paris nicht statt. Die Uraufführung 1832 war kein Erfolg. Auch die ausführenden Musiker waren negativ gegenüber dem Werk eingestellt, worauf Mendelssohn dieses beiseitelegte. Durch die späte Veröffentlichung nach Mendelssohns Tod erhielt die Symphonie die irreführende hohe Ordnungszahl.

Zu Unrecht

Die Reformationssymphonie taucht auch heute nur selten auf einem Konzertprogramm auf. Mag sein, dass das fünfsätzige Werk wegen seiner Komplexität und dem religiösen Inhalt weniger attraktiv ist. Zu Unrecht. Der erste und fünfte Satz in Sonatensatzform umrahmen drei kürzere Mittelsätze, die durch ihren Kontrast auffallen.

Besonders der letzte Satz ist ein wahres Meisterwerk. Basierend auf Luthers Choral «Ein feste Burg ist unser Gott» entwickelt Mendelssohn das zu Beginn nur von einer Flöte vorgetragenen Thema (Andante con moto) mit zunehmend komplexerer Motivarbeit zu einem fulminanten, aber dennoch dem Thema gerecht werdenden Orchesterspektakel (Allegro vivace) – Festlichkeit und Glanz. Zu begeistern vermag der äusserst üppige Bläsersatz mit nicht weniger als neun Bläserstimmen inklusive eines Kontrafagotts oder Ophikleide. Hier setzt die überarbeitete Version noch zusätzlich Akzente, und auch eine Ophikleide, ein historisches Blechblasinstrument aus der Familie der Klappenhörner, ist zu hören.

Die Aufnahme – historisch informiert

Das französische Orchester Les Ambassadeurs – La Grande Écurie unter Alexis Kossenko hat einen prestigeträchtigen Hintergrund, basiert es doch auf Jean-Claude Malgoires La Grande Écurie et La Chambre du Roy. Ein Orchester, das schon früh in den 70er-Jahren durch das breite Repertoire und das Spiel auf Originalinstrumenten auffiel. Das Orchester dieser Einspielung umfasst 45 Musiker, die primär auf historischen Instrumenten spielen, soweit das eruierbar ist. Also Traversflöte aus Holz anstelle einer modernen Böhm-Flöte aus Metall usw.

Traversflöte.Traversflöte.

So entsteht im Vergleich zur Aufnahme der 4. und 5. Mendelssohn-Symphonie mit Claudio Abbado mit dem London Symphonie Orchestra (1986 /DGG) eine völlig andere Orchesterbalance. Abbado steht in der Aufführungstradition der damaligen Zeit. Auch Werke der Klassik-Epoche werden durch eine stark romantisierende Brille betrachtet und interpretiert: Langsamere Tempi, breites Vibrato und Streicherdominanz.

Sind bei Abbado (Aufnahmetechnik) die Bläser dezent im Hintergrund und in der Raumtiefe wahrnehmbar und somit klar hinter den homogen spielenden Streichern platziert, verfolgt die Aufnahme mit Kossenko einen konträren Ansatz. Dies beginnt mit der deutschen Orchesteraufstellung (zweite Violinen gegenüber den ersten Violinen auf der rechten Bühnenseite). Im 5. Satz der Reformationssymphonie spielt bei Kossenko nur eine einzelne Traversflöte. Sie ist klarer hörbar und aufnahmetechnisch mehr in den Vordergrund gerückt. Dies auch als Folge des kleineren Orchesterkörpers. Gespielt wird ohne Vibrato – erfrischend (der Autor ist kein Vibrato-Freund).

Generell rückt die heutige Spielpraxis die Orchesterbalance in Richtung zu mehr Ausgewogenheit zwischen Streichern und den übrigen Registern. Dies zeigt auch ein Quervergleich mit den Aufnahmen dieser beiden Werke mit Andrew Manze und der NDR-Radiophilharmonie (Pentatone, 2018) oder Andrew Litton, Bergen Philharmonic (BIS, 2010).

Video – Interview mit Alexis Kossenko.
Übersicht zu diesem Artikel
Seite 1:
Seite 2: