MUSIKREZENSION
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Interpretations- und Aufnahmevergleich

Vergleich anhand des 4. Satzes des zweiten Brahms-Klavierkonzerts Op. 83.

Nelson Freire, Riccardo Chailly, Gewandhaus Orchester Leipzig
(Decca 2006, 16/44.1).Nelson Freire, Riccardo Chailly, Gewandhaus Orchester Leipzig (Decca 2006, 16/44.1).

Freire schlägt ein deutlich schnelleres Tempo als Trpčeski an und fällt mit einem runden, fliessenden Spiel auf, prägnant und mit überzeugender Dynamik (Klavier). Sehr schön gespielt sind die lyrischen Passagen. Das Orchester- und Klavierspiel ist fein aufeinander abgestimmt, Dynamiknuancen passen zusammen, feinstufige Agogik. In Orchesterpassagen, bei denen das Klavier Begleitfunktion hat, rückt dieses deutlich in den Hintergrund.

Triller bei Takt 115/116 = Ja

Wie auch schon bei den Symphonien von Brahms und Beethoven mit Chailly (Decca) wird mit leichter Dynamikkompression gearbeitet, was zu einem Verlust an Klangnuancen führt. Dies macht sich deutlich bemerkbar bei Orchestertuttis. Auch die Tiefenstaffelung des Orchesters ist eher mässig. Das Klavier klingt basskräftig, perlend in den höheren Oktaven und nimmt die ganze Basisbreite zwischen den Lautsprechern ein.

Vladimir Ashkenazy, Bernard Haitink, Wiener Philharmoniker 
(Decca 1982 [Digital Recording] 16/44.1).Vladimir Ashkenazy, Bernard Haitink, Wiener Philharmoniker (Decca 1982 [Digital Recording] 16/44.1).

Langsameres Tempo als Freire, gute Orchester-Klavier-Balance, die Violinen klingen leicht scharf. Gute Durchhörbarkeit. Die lyrischen Stellen sind subtil gestaltet, mit überzeugender Feindynamik und Agogik. Guter Kontrast zwischen den lyrischen und den dramatischen, schnelleren Passagen. Ashkenazys Spiel ist virtuos, auch die Triller bei Takt 115/116 sind da. Die Blechbläser sind präsent, die restlichen Bläser gehen im gesamten Orchesterklang unter, sind somit nur bei solistischen Stellen hörbar (Aufnahmetechnik). Die Tiefenstaffelung des Orchesters ist ordentlich, das Klavier ist mittig zwischen den Lautsprechern positioniert.

Triller bei Takt 115/116 = Ja

Claudio Aarau, Bernard Haitink, Concertgebouw Orchestra 
(Philips 1970, [Analog Recording] 16/44.1).Claudio Aarau, Bernard Haitink, Concertgebouw Orchestra (Philips 1970, [Analog Recording] 16/44.1).

Eine viel beachtete Aufnahme aus dem Jahr 1970, die mit dem Deutschen Schallplattenpreis ausgezeichnet wurde. Auffallend ist das langsame Tempo, teilweise schleppend im Orchester. Ein transparentes, eher helles, teilweise dünnes Klangbild prägen diese Einspielung. Die Bläser sind kaum hörbar und auch in den Soloparts eher schwach, vor allem die Oboen. Die akzentuierte Spielweise von Claudio Aarau mit einem nach vorne und gegenüber dem Orchester präsenteren Klavier stellt den Pianisten ins Zentrum, der auch brilliert. Die Differenz zwischen lyrischen und dynamischen Momenten könnte grösser sein. Das Klavier ist eher klein und mittig abgebildet. Das Orchester im Gegensatz dazu dominant auf der Links-Rechts-Achse aussen positioniert. Die Streicher klingen schrill. Interpretations- und Aufnahmetechnisch hat sich viel getan in den letzten 53 Jahren. Das Album ist in zahlreichen Neuauflagen auf dem Markt.

Triller bei Takt 115/116 = Nein

Stephen Hough, Mark Wigglesworth, Mozarteumorchester Salzburg (Hyperion 2013, 24/96).Stephen Hough, Mark Wigglesworth, Mozarteumorchester Salzburg (Hyperion 2013, 24/96).

Das Tempo ist auf der schnelleren Seite, mit kräftigem Klavierklang, brillant in den mittleren und hohen Lagen. Die Stärke der Einspielung liegt auf der dramatischen Seite. Durch das höhere Tempo verlieren die lyrischen Stellen etwas von ihrem Schmelz und Wehmut. Eine von Houghs Stärken in diesem 4. Satz sind die subtilen Tempoveränderungen, besonders in den Stimmungsübergängen. Die Abbildung des Klaviers reicht knapp bis an die Basisbreite der Lautsprecher. Das Orchester ist plastisch und mit guter Raumtiefe abgebildet; klangschön auch die Bläser, soweit sie denn hörbar sind. Alles in allem eine gelungene Interpretation mit gutem Verhältnis zwischen Interpretation und Aufnahmequalität.

Triller bei Takt 115/116 = Ja

Nicholas Angelich, Radio Sinfonie Orchester Frankfurt, Paavo Järvi (Erato 2007, 16/44.1).Nicholas Angelich, Radio Sinfonie Orchester Frankfurt, Paavo Järvi (Erato 2007, 16/44.1).

Auch in dieser Aufnahme ist das Tempo eher auf der schnellen Seite. Eine Tendenz, die sich bei vielen Einspielungen und im Konzert in den letzten 20 Jahren manifestiert hat. Der Klavierklang ist brillant und feingezeichnet, allerdings etwas bassarm im Vergleich. Pianist und Orchester bieten technisch eine überzeugende Darbietung. Auch die Interpretation ist packend. Der feine, teilweise seidige Streicherklang ist ein Hörgenuss.

Das Orchester spielt eher dezent, zeitweise leicht bremsend, ist aber mit guter Tiefenstaffelung im Hörraum präsent. Die lyrischen Momente, ein zentrales Element in diesem Satz, sind schön ausgearbeitet, ebenso die Bläser in den Soloparts. Die klug eingesetzte Agogik rundet diese ausgewogene Aufnahme ab. Der Wermutstropfen sind die zwei Triller bei Takt 115/116, die Angelich nicht macht. Die Aufnahme bildet das Orchester breit gefächert, aber mit nicht allzu ausgeprägter Tiefenstaffelung ab.

Nur eine kleine Auswahl

Es gäbe noch dutzende von Aufnahmen zu erwähnen und zu besprechen. Da wäre die rhythmisch und agogisch eigenwillige Aufnahme mit Lars Vogt von 2020, mit einem bassgewaltigen Klavier. Oder Hélène Grimaud (2013, Live) mit einem sauberen Spiel, eher dünnem Klangbild (aufnahmetechnisch) und speziellen Nicht-Trillern in Takt 115/116. Ja, da wäre noch die alte Garde mit Emil Gilels, dem geschätzten Alfred Brendel oder die Live-Einspielung unter Otto Klemperer mit Geza Anda aus dem Jahr 1956, mit einem für die Zeit teilweise rasanten Tempo.

Fazit

Die Frage, ob die Neuaufnahme mit Simon Trpčeski eine Bereicherung darstellt, lässt sich nicht absolut beantworten. Aufnahmetechnisch sicher nicht, interpretatorisch eher, dank des eleganten, perlenden Spiels von Trpčeski. Welche der anderen zahlreichen Interpretationen und Aufnahmen man als seinen Favoriten wählt, ist letztendlich ein persönlicher Entscheid. Auch der Autor hat hier keine absolute Präferenz, vielmehr eine Tendenz zur Interpretationslinie und Klang von Hough und Angelich, oder die den Autor seit Jahrzehnten begleitende Aufnahme mit Askhenazy. Dank Streaming kann man heute die Interpretationen in der Tiefe erkunden und seinen Hörhorizont erweitern. Alle erwähnten Aufnahmen sind auf Qobuz verfügbar.

Fritz Fabig Gastautor

Fritz Fabig ist passionierter Musikliebhaber mit Schwerpunkt in der Klassik-Epoche. Nach einer elektrotechnischen Ausbildung und Management/Marketing Weiterbildung erfolgte ein Wechsel in die Audio Branche. Beinahe zwei Dekaden war Fritz Fabig Geschäftsführer der B&W Group Schweiz. Seit Ende 2021 ist er als freischaffender Berater tätig.
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STECKBRIEF
Interpret:
Simon Trpčeski
Besetzung:
Solist: Simon Trpčeski
Dirigent: Cristian Măcelaru
Orchester: WDR-Sinfonieorchester
Albumtitel:
Brahms Klavierkonzerte
Komponist:
Johannes Brahms (1833–1897)
Herkunft:
UK (DE/FR)
Label:
Linn/Outhere Music/WDR
Erscheinungsdatum:
15.12.2023
Spieldauer:
1.35.15 h/m/s
Aufnahmedetails:
Aufnahmeort: Kölner Philharmonie 13–15.2.2023 & 7/8.3.2023 und 10/11.3.2023 (2. Konzert Live-Aufnahme)
Tonmeister: David Schwager
Produzent (Aufnahme): Günther Wollersheim
Medium:
Download/Streaming/CD
Musikwertung:
8
Klangwertung:
7
Bezugsquellen