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Publikationsdatum
20. Januar 2022
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Im Oktober dieses Jahres wird der CD-Player seinen 40. Geburtstag feiern können. 1982 brachte Sony, gefolgt von Philips, das erste käufliche Gerät auf den Markt. Ich kaufte meinen ersten CD-Player bereits 1983. Es war ein Hitachi, aber mit «Denon» beschriftet, denn alle Marken wollten dabei sein, koste es was es wolle.

Der anfänglichen Begeisterung über den grossen Fortschritt folgte bald eine differenzierte Wahrnehmung. Die offensichtlichen Vorteile der CD, wie man sie abkürzte, schienen nicht alle Musikhörer zu überzeugen. Die CD-Kritiker waren aber in der Minderheit und die Schallplatte verlor schnell an Bedeutung – sodass in den 1990er-Jahren bereits eine kleine Gegenbewegung einsetzte. Die Anhänger der Schallplatten verteidigten deren klanglichen Vorzüge. Doch es führte zu nichts, denn sie waren zu wenige.

Die Hip-Hop- und die Techno-Szene hingegen wollten nicht aufs «Plattenauflegen» verzichten. Ihre Labels konnten die wenigen verbliebenen Presswerke gerade noch genug auslasten, um sie am Leben zu erhalten. Die Schallplatte blieb präsent und sichtbar und irgendwann sprangen auch junge Leute auf den Zug auf. Sie begründeten den Vinyl-Boom, der zu einer rasanten Entwicklung führte.

Zum Beispiel: Der grösste Hersteller von Plattenspielern, die Firma Pro-Ject, wurde erst 1991 gegründet. Es gibt heute nagelneue Presswerke, die mit modernsten Betriebsmitteln und mit Automatisierung arbeiten. Die grossen und kleinen Labels schaffen es kaum, die Nachfrage zu decken und reissen sich gegenseitig die Produktionskapazität aus den Händen. Der Brand eines Herstellers von Lackfolien führte zu Versorgungsproblemen. 2021 überholten die weltweiten Schallplattenverkäufe beim Umsatz die CD – nach langer Talfahrt Letzterer.

Die zumeist etwas in die Jahre gekommenen Verfechter des «Prinzips Analog» sollte diese Entwicklung eigentlich freuen – aber tut sie das auch?

Die Wiedergeburt der Schallplatte, heute eher unter dem Begriff Vinyl verstanden, ist für Musiker eine willkommene Entwicklung, ein unkopierbarer, verkäuflicher Tonträger. Die Schallplatte hat sich zum populären Medium entwickelt, auch für alle, welche die LP vorher nicht kannten. Der stetige Nachschub des Presserzeugnisses aus PVC sorgt für Freude unter manchem Weihnachtsbaum, im übertragenen Sinn. Vinyl ist auf gutem Weg, sich weltweit neu zu verankern. Die Schallplatten, die man nun kaufen kann, riechen nicht mehr nach Schimmel und Dachboden. Sie riechen neu, nach Druckfarbe und verheissungsvollem Inhalt.

Doch worüber schreiben und sprechen die Analog-Fundis in sozialen Medien, Printmedien, an Stammtischen und in Foren aller Art? Sie beklagen sich über die schlechte Qualität des PVCs und ebenso über die mangelhafte Pressqualität, über hohe Preise und schlechte Verfügbarkeit. Sie ärgern sich über Mainstream-Produktionen, denen die Presswerke den Vorzug geben und betrachten die neuen Schallplatten-Fans als Unwürdige und Schuldige mit dem fehlenden Ernst an der Sache. Und überhaupt wäre es aus ihrer Sicht viel besser, wenn der Vinyl-Boom nie gekommen wäre. Was soll diese plötzliche Popularität der Schallplatte? Ist es eine Entwicklung wie beim Zauberlehrling? «Die ich rief, die Geister, werd ich nicht mehr los!»

Es ist noch schlimmer: Der Feind der Schallplatte, die CD, hat als Feind längstens ausgedient und «MP3» – der in analogen Kreisen unbeholfen verwendete Gattungsbegriff für jede Art von digitalem «Musikschrott» auf Speichermedien – ist auch veraltet. Der neue Feind heisst «Streaming» – oder etwas pointierter ausgedrückt: «digitales Musikstreaming» mit starker Betonung auf «digital».

Man geht mit der Zeit im Sammelbecken der verlorenen Analog-Seelen und empört sich deftig. Schon der CO2-Abdruck vom Musikstreaming-Business sei verheerend – was allerdings zutrifft – und die Musiker bekommen auch nur Almosen. Wobei das früher auch nicht viel besser war. Alles muss her, um Musikstreaming zu verteufeln.

So habe ich es oft gelesen und gehört im Jahr 2021.

Die Ablehnung wird nichts bewirken, wie auch schon, wie immer schon. Doch sollte man sich bewusst sein, dass Musikstreaming das Musikhören sehr populär gemacht hat und eine gigantische Nachfrage schafft, von der am Ende die gesamte Musikindustrie profitieren wird. Auch «Analog» wird davon profitieren. Musikstreaming ist eine ganz neue Show, die man wirklich begreifen muss, bevor man sie ablehnt.

Und manch ein Analog-Fundi wird des Nachts heimlich Musik vom Streamer spielen. Weil es wunderbar klingt oder weil er nicht mehr weiss, wo sich diese Schallplatte in seiner grossen Sammlung genau befindet. Jene Platte, die er sonst abgespielt hätte und die nun gerade aus seinen Lautsprechern erklingt. Digital zwar, aber immerhin und eigentlich sehr gut. Irgendwie ist es schon auch praktisch. 24/192 – Why not?